Was hindert mich stimmig zu handeln?

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von Dr. Stefan Rusche (Beitrag zur Dokumentation des MANICAMP 2017)

 

(Die Kürzel stehen für Redebeiträge der Teilnehmer)

 

SR: Ich orientiere mich beruflich immer wieder neu. Denn der Weg zur Stimmigkeit ist knirschend, von Enttäuschungen gekennzeichnet und nicht unbedingt harmonisch, zumindest für mich als Jurist. Manchmal kommt die Disharmonie von außen, manchmal von innen, manchmal ist es beides. Ich kann das nicht so trennen. Das hat mich aber bewogen, dies als mein Anliegen aufzuschreiben. Wie geht Ihr damit um, dass Ihr nicht wisst, wie Ihr in Stimmigkeit kommt? Mich frustriert das manchmal, denn wenn ich Stimmigkeit nach außen vertreten habe, habe ich damit nicht immer gute Erfahrungen gemacht.

 

CB: Das Schlüssige ist eine vermeintliche Sicherheit. Wir haben lange gelernt, dass wir einen geraden Weg gehen und mit Logik das Ziel erreichen. Es macht Angst, es stimmig zu machen. Daher kommt das negative Feedback. Stimmigkeit erfordert eine andere Offenheit im Umgang miteinander. Ich muss Stimmigkeit trainieren, so wie man Schlüssigkeit gelernt hat. Man muss sich ein neues Denkmodell angewöhnen. Ich bin extrem schlüssig erzogen worden, das Stimmige spricht mich innerlich an, aber das andere, lineare Denken ist übermächtig. Ich merke aber: im Familiären tue ich es schon, da bin ich stimmig. Vielleicht ist es wirklich so, dass es in anderen Lebensbereichen verschüttgegangen ist. Wenn ich beispielsweise in ein Meeting hineingehe und sage: „Lasst uns mal stimmig agieren“, dann kriegen die eine Gänsehaut und denken: „Äh, so ein Eso-Kram!“

 

NB: Aber man muss es ja gar nicht benennen. Warum muss man das Wort Stimmigkeit überhaupt benutzen? Sinnvoll ist es nicht, weil die Gefahr besteht, dass man eine Tür zumacht, weil man ja sagt: „So wie Ihr handelt, geht es nicht!“ Selbst wenn es stimmt.

 

SR: Andersherum sage ich: Das ist doch alles Blödsinn, was wir an vermeintlich Schlüssigem alles machen. Das funktioniert doch gar nicht, das sieht doch ein Blinder, wenn wir uns die zahlreichen Krisen angucken, die wir selbst produzieren, beispielsweise im Umweltbereich.

 

EB: Es gibt oft kein Bewusstsein für die unterschiedlichen Herangehensweisen. Für mich ist Stimmigkeit eng verbunden mit dem Bauchgefühl, der Intuition. Nur haben wir Mechanismen gelernt, uns hinterher die Argumente zurecht zu legen, sind konditioniert auf das rationalistische Denken.

 

CB: Das ist ein guter Punkt. Wir Menschen sind gar nicht logisch, sondern agieren zutiefst emotional. Stimmig ist für uns naheliegend, wir haben es uns gewissermaßen nachträglich abtrainiert.

 

EB: Das ist ja auch in der Geschichte verankert durch die Aufklärung.

 

NB: Also handeln wir schon immer stimmig?

 

EB: Ja, aber unsere Strukturen außerhalb des Persönlichen sind so, dass man es verargumentieren muss, in Projektplänen, in Verwaltungsabläufen, die keinen Raum mehr für etwas anderes lassen. Und dann fangen die Pro- und Contra-Diskussionen an, die in Konfrontation enden. Hier andere Mechanismen einzubringen ist wertvoll, weil es darum geht, dafür ein Bewusstsein und andere Herangehensweisen zu entwickeln.

 

CB: Im Kern sind wir emotional und stimmig, sind dann aber durch eine lange Tradition gegangen, es schlüssig zu machen. In der Schule wurde mir vermittelt, dass Kant die Sicht auf die Welt vertritt, die man zu haben habe. Das wurde mir auf allen Ebenen kontinuierlich vermittelt, diese aufgeklärte Art, sein Leben zu gestalten.

 

EB: Ja, unvernünftig geht gar nicht. Dabei sagt die Hirnforschung, dass die Entscheidungen da sind, bevor sie uns bewusst sind.

 

NB: Könnt Ihr Beispiele nennen, wo es einen Unterschied macht, stimmig oder schlüssig zu handeln? Bei Euch klingt das so, als sei das ganz klar: Stimmig würde ich das machen, schlüssig würde ich das machen, ich muss aber schlüssig handeln, weil ich dazu gezwungen werde. Ich finde das für mich nicht so klar.  Mir leuchtet ein, dass man rücksichtslos ein Ziel verfolgt (Projektplan), wenn man Teile der Umwelt nicht einbezieht oder so weit in die Zukunft legt, dass es nicht mehr vorhersehbar wird. Auch gibt es Managemententscheidungen, die nicht stimmig sind, beispielsweise den Verkauf in Europa ankurbeln, wo andere sagen, dass es offensichtlich nicht funktionieren kann. Fallen Euch noch andere Beispiele ein?

 

SR: Ich finde es in außenpolitischen Zusammenhängen klar, beispielsweise in der Entwicklungszusammenarbeit: Dort machen wir Projekte, die vor Ort sogar Schaden anrichten – und das nicht selten. Aber für unsere Heimatperspektive ist das vielleicht sogar stimmig, weil sie zumindest Verbesserung vorgeben und unser Gewissen entlasten. Nur vor Ort ist es die totale Kakophonie, die keines der anvisierten Ziele erreicht. Die Beteiligten machen das, weil sie sich einrichten, weil ihnen die Arbeit als solche Spaß macht, weil sie das Geld brauchen. Es interessiert sie nicht unbedingt, dass es schräg ist, was sie da machen, obwohl sie durchaus mitbekommen, dass es schräg ist.

 

EB: Aus dem Bildungssystem kann ich ein Beispiel nennen: Meine Schwester machte einen Quereinstieg als Lehrerin. Nun unterrichtet sie und absolviert gleichzeitig das Referendariat – und muss sich jetzt in ein System hineinbegeben, wo ihr alles abtrainiert wird, was sie im Umgang mit Kindern gut, richtig und stimmig findet. Komplette Reduzierung auf den vorgegebenen Weg aus Effizienzzwängen und weil Pädagogik hier und jetzt so gelehrt wird. Es ist kein Raum da, etwas anderes hereinzubringen, obwohl das System selbst in dem sozialen Brennpunkt, wo meine Schwester arbeitet, nicht funktioniert. Es ist eine komplette Reduzierung auf den vorgegebenen Weg. Die ganze Bildung ist darauf ausgerichtet: „Womit kannst Du (vermeintlich) Geld verdienen und Sicherheit haben?“ Aber nicht auf: „Was spricht Dich an, wo willst Du hin?“ Was hindert uns? Warum haben wir das so gelernt? Ich glaube, dass das etwas mit kollektiver Traumatisierung und ganz viel Angst zu tun hat. Schlüssigkeit gibt Sicherheit. Situationen von Unsicherheit und von allen Seiten etwas kommen lassen, macht den Menschen Angst. Es funktioniert ja auch nicht mehr in den alten Strukturen. Pegida ist auch so ein Angstproblem.

 

NB: Wir haben Stimmigkeit nicht gelernt. Wenn es wirklich wichtig ist, verlasse ich mich auf die Dinge, die ich gelernt habe. Mit rationalen Entscheidungen habe ich viel Erfahrung. Eine angelernte Art, mit stimmigem Handeln umzugehen, habe ich aber so nicht. Jeder hat nur seine individuelle Intuition, weil das Wissen nicht da ist, um stimmig zu entscheiden. Das ist fast immer der Fall, und man muss unter Unsicherheit entscheiden. Ich habe nicht gelernt, was ein stimmiger Weg ist.

 

CB: Das habe ich auch nicht gelernt. In der Familie entscheidet man aber viel aus dem Bauch heraus, wird hineingeschmissen ohne eine Ausbildung, wie man eine Familie führt. Und man ahnt, dass man viel falsch machen kann. Klar ist da aber auch, dass man keinen Fünfjahresplan aufstellen kann und damit die Unsicherheit in den Griff bekommen kann, was man im Unternehmen ja machen würde. In der Familie muss man vielmehr stimmig handeln, weil die linearen Konzepte dort totaler Quark sind. In der Familie haben wir so eine Fähigkeit und einen Rahmen, stimmig zu handeln.

 

FB: Selbst wenn man einen Fünfjahresplan für die Familie machen würde, wüsste man ja gar nicht, wie sich ein Kind in dieser Zeit entwickelt. Man kann auch nicht einplanen, ob das Kind blind wird oder nicht.

 

EB: Stimmigkeit ist ein permanentes Justieren.

 

NB: Agile Methoden in der Industrie antworten schon auf dieses Dilemma. Ist das ein Schritt in die Stimmigkeit? Man plant weniger und fragt stattdessen: „Was steht denn heute an?“ Und schaut am nächsten Montag, ob das noch so stimmig ist. Viele Managertypen gehen dazu in den Widerstand. Könnte das trotzdem ein Schritt sein in Richtung zu mehr Stimmigkeit?

 

CB: Ja, wenn man sich nicht nur auf einen Faktor ausrichtet. Mit dem Handlungsnavigator, so wie ihn Martin im Impulsvortrag gezeigt hat, habe ich eine Matrix, auf der die vielen Faktoren eingetragen werden. Dann kann man auch schon in eine Vernunftebene kommen.

 

EB: Der Navigator hat durchaus was mit Vernunft und Denken zu tun und nicht nur mit reiner Intuition. Unterschiedliche Faktoren sind dadurch im Blickfeld.

 

CB: Die Sorge, die klassische Manager mit agilen Modellen haben, ist: „Wie werden Erfolge und Kosten nachvollziehbar?“ Es wird sehr viel fließender und damit schwerer steuerbar. Und umgekehrt kann man sagen: Das Lineale ist eine Illusion.

 

NB: Damit kämpfe ich. Für eine straffe Organisation ist das zweckrationale Modell der höhere Wert. Ich mache das, weil es stimmig ist? Bist Du wahnsinnig, wir müssen auf Kosten schauen! Das andere wird immer noch als Erfolgsmodell betrachtet. Steve Jobs bei Apple oder Piëch bei VW führten mit brutaler Befehlsstruktur und gelten als erfolgreich. Dieselgate ist ein Ausrutscher, und die Haltung, dass das Erfolg ist, ist immer noch sehr verbreitet.

 

FB: Sehr viele sind zukunftsorientiert, weshalb sie sich selbst die Dinge nicht kaputt machen wollen. Wie heißt es: Gestern ist Geschichte, morgen ist Gerüchte, heute ist das einzig Wahre. Planen ist schwierig.

 

CB: Ein Headhunter berichtete mir, dass das Anforderungsprofil für Vorstände immer noch das alte sei. Die darunter sollten aber vom Anforderungsprofil agil und teamorientiert sein, weil sie sonst nicht erfolgreich seien. Es gibt schon neue Ideen, es ist klar, dass man nicht so weitermachen kann.

 

SR: Für den Vorstand ist es stimmig in seiner Logik. Aber in den Auswirkungen ist es katastrophal. Wohlstand für einige und Umweltverschmutzung für viele. Man möchte zu den Wohlhabenden gehören, das ist die Logik.

 

CB: Ja, aber wir sind da nicht schwarz-weiß, dass merke ich auch an mir selber. Das Monetäre ist uns allen wichtig, das wurde uns über Jahrzehnte vermittelt.

 

FB: Wir haben in der Schule einen Film über „Fast Fashion“ gesehen, es geht nur um Profit und Wohlstand und andere hungern und verrecken, die Umwelt leidet. Daran denken die Manager von H&M nicht. Sie sehen nicht das Ganze, sondern nur das Halbe. Das ist nicht stimmig.

 

EB: Ein Aspekt der Stimmigkeit ist die Verbundenheit. In der Familie klappt das noch, aber in anderen Bereichen nicht, nicht in Zeiten der Globalisierung. Die menschliche Verbundenheit, eine entsprechend globalisierte Ethik, ist im Defizit.

 

SR: Ja. Die Leute sind in der Lage, sich genau zu informieren und sind informiert, aber dennoch wird gekauft.

 

FB: Das Argument ist: Das machen alle und deswegen müssen wir es auch machen. Manager argumentieren so.

 

NB: Das kommt aus dieser Aufspaltung! Wir spalten uns auf, wir sind ja nicht schwarz und weiß, sondern haben verschiedene Stimmen in uns. Das Aufspalten der Persönlichkeit ist ein typisches Phänomen der schlüssigen Systeme. Solange wir im System sind, stört es uns nicht, weil wir ja in dem Moment nur dieser eine, vom System geforderte Teil der Person sind. Die Trennung, die in der Rollentrennung steckt, ist fatal. Viele Manager sagen das auch offen: Auf der Arbeit bin ich so und im Privatleben ganz anders, agiere nach anderen Werten. Wenn man Menschen motiviert, als ganzer Mensch auf der Arbeit zu sein, dann kann man sich auch als Unternehmen ganz anders aufstellen.

 

FB: Wenn man die Ansichten, die man im Privatleben hat, auch mit ins Berufsleben nehmen würde, dann wäre alles deutlich besser und nicht nur profitorientiert. Dann könnten auch die am Ende der Kette leben.

 

NB: Wenn es erlaubt wäre, die ganze Person zu sein in der Entscheiderrolle, dann würde man anders auf die Dinge schauen. Es passiert ganz schnell: Wenn Du Dich nicht so systemkonform benimmst, wirst Du ganz schnell ausgeschlossen und gehörst nicht mehr dazu. Es sind häufig Organisationen, die diese Form von Druck ausüben. Organisationen brauchen keinen zwischenmenschlichen Kontakt, sondern klare Regeln, die ihr eigenes Überleben sichern. Die haben nicht so ein Interesse am Gemeinwohl.

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