Wollen wir so leben?

 

 

von Dr. Martin Böckstiegel (Auszug aus dem Eröffnungs-Impuls zum MANICAMP 2017)

 

Ausgangspunkt Fragmentierung

 

Einer unserer wohlwollenden Unterstützer hat den heutigen Zustand unserer Welt in einem Satz zusammengefasst: „Wir und unsere Systeme sind so fragmentiert“. Diese Fragmentierung war für uns ein wesentlicher Beweggrund, das Harmonia Manifest zu schreiben. Denn es ist ja tatsächlich so, dass wir ganz häufig nur mit einem ganz kleinen Teil unserer Person betrachtet werden: Für den Fiskus sind wir der Steuerzahler, für den Arbeitgeber der Arbeitnehmer, für die Politik, wenn es gut kommt, der Wähler, wenn es schlecht kommt, das Stimmvieh. So haben wir viele Teile und die Systeme sehen uns immer nur in diesen einzelnen kleinen Teilen.

 

Dieses Phänomen ist bereits 1964 von jemanden beschrieben worden, der uns in unserem Leben eine ganze Zeit lang begleitet hat. Es ist der Verfassungsrechtler und Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, bei dem wir das Glück hatten, studieren zu dürfen. Er hat dieses Phänomen schon damals in einem Aufsatz beschrieben, den er mit der Frage beendete: „Kann der Mensch so leben?“

 

Was wir mit der Fragmentierung meinen, ist nicht dasselbe wie unsere sozialen Rollen, die wir selbstverständlich einnehmen, z.B. als Vater, Ehemann, Nachbar oder Freund. Denn in diesen Rollen bleiben wir als ganze Person bestehen; wir stellen darin lediglich einen bestimmten Aspekt von uns in den Vordergrund, während die anderen Ausdrucksformen unserer Selbst eher in den Hintergrund treten. So bleiben wir ein Ganzes und werden nicht geteilt.

 

Im Gegensatz dazu betrachten uns die Systeme immer nur in dem für sie relevanten Ausschnitt, in dem Ausschnitt, auf den ihre Systemlogik gerichtet ist. Wir haben festgestellt, dass in diesem „nur in Teilen wahrgenommen werden“ einer der Punkte liegt, unter dem viele Menschen leiden. Hieraus entsteht die Sehnsucht, als Ganzes wahrgenommen, leben und wirken zu können. Und wir meinen zu Recht. Die Frage ist natürlich: Wie geht das?

 

Gegenmittel: Harmonie und Stimmigkeit als Verfahren

 

Wir haben im Harmonia Manifest beschrieben, dass die Einseitigkeit, die aus der schlüssigen Denkweise kommt und in der eben auch die Systeme funktionieren, nämlich dass das eine aus dem anderen folgt und nur dieser Blickwinkel wahrgenommen wird, dazu führt, dass solche Fragmentierungen entstehen. Dem haben wir das Wirkungsprinzip der Harmonie entgegengesetzt, also der Versuch, die Dinge wieder als Ganzes zusammen zu sehen. Wir verstehen hier Harmonie nicht als „Harmoniesoße“, mit der alles gleich gemacht wird. Sondern im Gegenteil: In Harmonie bleiben die Dinge unterschiedlich und klingen im unterschiedlich Sein zusammen. Es ist also die Zusammenschau von Dingen, die unterschiedlich bleiben dürfen, aber trotzdem miteinander verbunden sind.

 

Mit dem Wirkungsprinzip der Harmonie beschreiben wir nicht einen besonderen Inhalt, sondern ein Verfahren, wie man miteinander handeln und umgehen kann, um z.B. möglichst zu WIN-WIN-Lösungen zu kommen. D.h. wir geben in keiner Weise einen inhaltlichen Standpunkt vor, sondern eigentlich nur, dass es schön wäre, auf diese Art miteinander umzugehen. Denn dann sehen wir größere Chancen, dass es auf eine gute Art ein Miteinander gibt. Welchen Inhalt das dann hat, ist den Beteiligten überlassen. Und wir sind überzeugt, dass dieses harmonisch-stimmige Vorgehen die einzelnen Beteiligten in ihrer Selbstwirksamkeit stärkt und dadurch in eine Aufwärtsspirale in Gang kommen kann. Im Gegensatz dazu kostet die Fragmentierung uns sehr viel Energie und führt uns tendenziell in eine Abwärtsspirale mit all den bekannten Symptomen wie z.B. psychischen Erkrankungen.

 

Darüber hinaus setzt das harmonisch stimmige Arbeiten auch noch etwas anderes frei: viel Kreativität und schöpferische Kraft. Weil Dinge wieder zusammen sein dürfen, die sonst getrennt sind. Woran man das sieht? Es entstehen mit dieser Vorgehensweise sehr schnell WIN-WIN-Lösungen, die mit der schlüssigen Vorgehensweise äußerst schwer zu erreichen sind. Das ist erst einmal ungewohnt, weil wir das in weiten Bereichen unseres Lebens nicht praktizieren können, so etwa im öffentlichen oder professionellen Bereichen, weil es hier heißt, das sei unprofessionell. Wir erleben es in vielen Zusammenhängen: Sofort hüpfen wir auf fertige Lösungsrezepte und erhoffen uns von ihnen, dass sie die Probleme lösen. Wenn wir aber alle auf fertige Rezepte hüpfen und damit selbstverständlich auch auf gegensätzliche, dann passiert das, womit alles so voll ist: Debatten darüber, wer Recht hat, gefolgt von machtpolitischem Kampf. Zurück bleiben Gewinner und Verlierer (WIN-LOOSE) und ein Rezept, das sich irgendwie per Macht durchgesetzt hat.

 

Wirkungen von Harmonie

 

Was das bedeutet, wird uns allmählich schmerzhaft bewusst und zwar auf allen Ebenen:

 

Auf der individuellen Ebene fühlen sich immer mehr Menschen überfordert, ohnmächtig, was am Ende zu hohen gesundheitlichen Belastungen führt; die Medien sind voll der erschreckenden Statistiken zu nicht nur körperlichen, sondern auch zunehmenden psychischen Erkrankungen.

 

Auf der Ebene der Organisationen und damit vor allem im Arbeitsleben fühlen sich viele Menschen als Verlierer oder als potentielle Verlierer, z.B. weil sie nicht mehr gebraucht werden, weil sie mit den Entwicklungen nicht mitkommen, weil sie sich als reines Objekt einer Arbeitslogik erleben und die Arbeit sinnentleert ist. Dabei kämpfen Organisationen ihrerseits mit enormen Dysfunktionalitäten aufgrund ihrer engen Systemlogiken. Oft arbeiten die Teile einer Organisation mehr gegeneinander als miteinander, weil sie völlig schlüssig in ihren Teil-Logiken funktionieren, aber den Blick für das Ganze verloren haben.

 

Auch auf der gesellschaftlichen Ebene produziert die Einseitigkeit unserer mächtigen Systeme immer mehr Verlierer, teilweise objektiv z.B. durch die zunehmende Ungleichheit, besonders aber subjektiv mit dem Gefühl, für die irrwitzigen Herausforderungen der Welt nicht gerüstet zu sein. Das können auch die Korrektursysteme unseres Kapitalismus, etwa Sozial- und Gesundheitssysteme oder der Umweltschutz nicht mehr auffangen, weil damit keine Selbstwirksamkeit einhergeht, sondern bestenfalls Versorgung, Lebenserhalt. Und die Verlierer reagieren: Mit Bomben, Wahlen, brennenden Flüchtlingsheimen, Wutveranstaltungen. Und auch hier sind wie bei den Organisationen die Dysfunktionalitäten der bestehenden Systeme eklatant. Bloß, auch hier fällt uns als Gesellschaft bisher nicht viel Besseres ein.

 

Die Systeme, die wir entwickelt haben, scheinen nicht auszureichen, um das aufzufangen. Weil wir z.B. auf der einen Seite ein kapitalistisches System haben, das sehr einseitig effizient getrieben ist, haben wir auf der anderen Seite Sozialsysteme entwickelt, die in einem zweiten Schritt die Effekte wieder auffangen müssen. Allerdings scheint das nicht mehr so richtig gut zu funktionieren. Und unser Vorschlag mit dem harmonischen Weg ist, aus diesem Zwei-Schritt einen Ein-Schritt zu machen. Also in jedem Schritt möglichst zu schauen, dass wir gar nicht erst in diese Einseitigkeit kommen, sondern bereits Lösungen zu finden, die die unterschiedlichen Perspektiven mit einbeziehen.

 

Das im Harmonia Manifest beschriebene stimmige Handeln setzt deshalb nicht beim Inhalt und der Rechthaberei an, sondern bei einem Verfahren, das hilft, Lösungen zu finden, die möglichst keine Verlierer produzieren. Ein Verfahren, das dazu führen kann, dass wir gesund, ohne Exzesse, mit dem Blick aufs Gemeinwohl und in Freiheit und Frieden als ganze Menschen leben können (Thesen 9 - 12). Damit ist es zunächst einmal ein grundliberaler Ansatz, also ein Ansatz, der auf die Freiheit des Einzelnen setzt, aber nicht egoistisch oder isoliert, sondern in Verbundenheit mit seinem Kontext, den es auf Augenhöhe zu berücksichtigen gilt. Wir haben das mal vorläufig „co-liberal“ oder „colliberal“ genannt.

 

Der Umstand, dass das Manifest ein Verfahren, keine normative Ethik beschreibt, ist uns übrigens auch immer wieder als Kritik entgegengehalten worden. Viele Menschen vermissen darin absolute Werte als Orientierungen, denen man „nur“ folgen muss. Dabei liegt Problem nach unserer Wahrnehmung gerade im „nur“ und im „absolut“, das funktioniert nämlich seit Jahrtausenden eher schlecht als recht, weil wir alle davon offenbar ziemlich überfordert sind. Genau da setzt das stimmige Modell des Manifests an: Darin fehlen nämlich die orientierenden Faktoren nicht etwa, sie sind insbesondere mit dem Ideal und dem Fundament im Handlungsfeld explizit und stark vertreten. Aber nicht als „absolute“ Werte, sondern als relative Faktoren, die wir berücksichtigen, so gut wir es eben vermögen, ohne dadurch zu scheitern, zu verlieren oder gar zu sündigen.

 

M.a.W. beim stimmigem Handeln sind alle Faktoren im Feld Ressourcen, die man nutzt, keine Ziele, die man verfehlt. Stimmiges Handeln denkt in einer (und wenn auch noch so bescheidenen) Fülle und führt zu mehr Fülle, macht uns also alle subjektiv zu Gewinnern. Statt zu Verlierern oder Gescheiterten an den Ansprüchen absoluter Werte und Ideale. Darin liegt ein guter Teil der befreienden Kraft stimmigen Vorgehens.

 

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